Postkarten aus der Kabylei

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Kabylei
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Mein liebster Kalender,
ich hoffe, du erholst dich gut während deiner freien Zeit. Mit geht es besser, seit ich dich in den Urlaub geschickt habe, denn alles was ich in dich hineingeschrieben hatte, passiert sowieso ganz anders. Ich lerne geduldig zu warten und zu vertrauen, dass Dinge irgendwie, irgendwann passieren. Termine spielen keine große Rolle – der Bus fährt dann los, wenn er voll ist *inshallah*… eigentlich auch viel vernünftiger.
Trotzdem freue ich mich, dich irgendwann wieder zu sehen – wenn die Zeit reif ist…
Deine Jutta.

Oh ihr treuen Toiletten in Deutschland!
Nie hätte ich gedacht, dass ich eines Tages derart sehnsüchtig an euch denken würde. Aber, obwohl ich sehr versuche, mich mit euren Verwandten, den türkischen Stehtoiletten, anzufreunden, bleibt unser Verhältnis etwas distanziert. Immerhin sind die meisten Stehklos sauber, im Gegensatz zu allem anderen, was man hier findet…
In Erwartung eures Komforts, herzlich, Jutta.

Liebe Individualisten,
ihr werdet mir nicht glauben, wenn ich – als eine aus eurer Mitte – euch erzähle, dass ich, zwei Wochen nach meiner Ankunft noch nicht einmal alleine Bus gefahren bin. Nicht weil ich nicht kann, sondern weil ich Gast bin. Nein, ich muss nicht alles selber machen, nicht beweisen, dass ich allein klar komme. Nein, es ist nicht schlimm, meinetwegen eine halbe Stunde auf den Bus zu warten, nur um mich nach Hause zu bringen und hinterher wieder zurück zu fahren. Nicht in Verlegenheit zu geraten, wenn ein Lehrbeauftragter an der Uni auf der Suche nach Dokumenten für mich seine Ferien für einige Stunden unterbricht. Ich lerne aber auch, als guter Gast, jedem stolz die vier Wörter kabylisch aufzuzählen, die ich kann und zu erzählen was genau ich warum mache. Ich lasse mich allen vorstellen und bemühe mich, all die fremden Namen zu behalten und sie später den richtigen Menschen wieder zu zuordnen. Die Hoffnung auf „Privatsphäre“ und „Zeit für mich“ habe ich aufgegeben, genauso wie meine Bemühungen „niemanden zu stören“ und „groß“ und „selbstständig“ zu sein. Ich finde eine neue Freiheit inmitten all der Menschen, die mich bei der Hand nehmen und festhalten.
Möget ihr in eurem Glauben an euch selbst weniger irren als ich – Jutta.

Liebe Obstfreunde,
sind die Orangen in Deutschland für dieses Jahr schon endgültig ausgestorben? Hier jedenfalls noch nicht! Oh welch eine Herrlichkeit! Der Genuss beginnt schon bei dem Entfernen der Schale, die sich hier ganz leicht löst und nicht viel Weißes hinterlässt. Die Früchte sind riesig! Ach, und ein Aroma – die satte Süße der dünneren Spalten, wie Gummibärchen aus konzentriertem Saft. Im Gegensatz dazu stehen die größeren Stücke – sie verbreiten fruchtig und reich, wie eine Geschmacksbombe, die vom Mund aus alle Sinne erfasst und die beste Medizin gegen Müdigkeit und Frustration ist. Ich schicke euch orangene Gedanken aus der Kabylei – Jutta.

Lieber Frühling!
Wo bist du? Die ersten Tage in Bejaia hast du mit Regen und Kälte deine langsame Ankunft vorgetäuscht und jetzt überlässt du mich dem sommerlichen Sonnenbrand… findest du das etwa fair? Als ich ankam, erkannte ich zunächst Algerien nicht wieder. Mit all den grünen Wiesen und Wäldern, den kleinen Seen am Straßenrand und Flüssen, die fröhlich durch die Landschaft plätschern. Doch es regnete ständig. Als es aufhörte verwandelte sich das Wilaya (Bundesland) Bejaia innerhalb von zwei Tagen von einer graubraunen Matschwüste mit klammen Wänden in eine Staubwolke. Bitte komm doch einmal hervor hinter den lebendig-grünen Bergen und benimm dich anständig!
Ärgerliche Grüße von Deiner Jutta.

Liebe Ampeln,
ich bin mir nicht sicher, warum es euch in Bejaia nicht gibt. Aber vielleicht bin ich auch bloß nicht abenteuerlustig genug. Der Verkehr hier ist, wie Pascal richtig angemerkt hat, die „Sasastrophe,“ komplette Anarchie. Gerade gibt es vom Staat aus eine Änderung für die Fahrschulen, die Prüfungen werden erschwert, in der Hoffnung, dass die Leute lernen, vernünftig Auto zu fahren und es weniger Unfälle gibt. Ich habe so meine Zweifel, ob das der richtige Weg ist. Als anständige Deutsche wäre ich dafür, erst einmal Verkehrsschilder einzuführen und ein paar Ampeln, vielleicht einfach ein paar weiße Linien… Eigentlich ist es eher faszinierend, dass nicht noch mehr Unfälle passieren. Jeder fährt nach dem Motto: der kürzeste Weg, so schnell wie möglich. Also fährt man von allen Seiten gleichzeitig auf die Kreuzung und wenn sich nichts mehr bewegen kann, fängt man an zu hupen. Mir persönlich ist es immer noch ein Rätsel, wie sich solche Situationen doch immer wieder auflösen – Hamdullah (Gott sei Dank), sie tun es. Da braucht man sich auch nicht anzuschnallen, man sitzt ja hinten und es gibt kein Gesetz dafür, wie Hamida mir erklärt.
In der Hoffnung dem Verkehr nicht zum Opfer zu fallen, Jutta.

1 Kommentar

  1. Danke fuer die sachliche Information Jutta.
    Das ist aber die allgemeine Situation in Algerien. Das hat Nichts mit der Kabylei zu tun.
    Ehrlich gesagt, in die Stadt wirst Du nicht viel ueber die Kabylei lernen. Das Kabylische (oder was noch uebrig ist) ist in den Doerfern zu finden.
    Viel Spass beim Entdecken und pass auf Dich auf.
    Yiwen

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