"Arabellion" am Abgrund

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Boualem Sansal
Boualem Sansal

Boualem Sansal: Wir Algerier haben den Arabischen Frühling bereits hinter uns. Vor mehr als zwanzig Jahren, im Oktober 1988, sind wir auf die Straße gegangen, es gab tagelang riesige Demonstrationen. Was folgte, waren Hunderte Tote, Tausende Gefolterte und Verschwundene. Ein brutales Gemetzel zwischen der Armee und den Islamisten. Bis heute kamen 200.000 Menschen ums Leben. Das war der Frühling von Algier. Was haben wir dafür bekommen? Nichts. Eine Scheindemokratie. In Wirklichkeit haben unsere Demonstrationen die Willkür der Macht noch verstärkt.

ZEIT: Sie behaupten tatsächlich, die Unterdrückung sei durch die Rebellion noch schlimmer geworden?
Sansal: Natürlich. Auch vorher gab es schon Folter. Aber sie geschah in einem gewissen Rahmen, man hielt sich an gewisse Regeln. Schon deshalb, weil sich die Opfer hinterher beschweren und sogar Schadensersatz verlangen konnten. Doch nach dem Frühling von Algier riss die Welle alles mit fort. Jeder konnte überall verhaftet oder ermordet werden. Richter und Polizisten wurden ausgetauscht. Im Namen des Kampfes gegen den Terrorismus wurden die größten Gräuel begangen. Die Demokratiebewegung hat der Diktatur nur genutzt.

ZEIT: Wie sehen Sie die Lage der arabischen Revolution in Tunesien, Ägypten, Libyen?
Sansal: Das Problem ist: Die anderen arabischen Länder drohen dem schlechten Beispiel Algeriens zu folgen. Das passiert heute schon in Ägypten. Dort ist das Militär stärker als je zuvor – einflussreicher als unter Mubarak. Die Armee wird ihre Macht niemals abgeben – in hundert Jahren nicht. Journalisten und Intellektuelle werden verhaftet. Man verfolgt Kopten, Juden, Schwule, man schlägt Frauen, wenn sie sich nicht verschleiern, oder zieht sie an den Haaren, man verbietet den Mädchen, in die Schule zu gehen, bald darf man einer Frau nicht mehr die Hand geben. In Libyen gibt es bewaffnete Gruppen, die die Leute einschüchtern und manchmal umbringen. Und in Tunesien werden Frauen bespuckt, wenn sie sich nicht islamkonform kleiden. Islamisten gehen durch die Universitäten, wollen Männer und Frauen trennen, sie haben die Rektorin der Universität von Tunis hinausgeworfen, weil sie eine Frau ist. Solche Dinge geschehen täglich.

ZEIT: Letzten Sommer sagten Sie: Innerhalb von zwölf Monaten werde es in Tunesien, Ägypten und Libyen neue Diktaturen geben.
Sansal: Ich würde mich wahnsinnig gern irren. Aber wir haben nun einmal unsere Erfahrungen. Die Intellektuellen reden gern von Demokratie. Aber ist es wirklich Demokratie, was unsere Völker jetzt wollen? Sie wollen Rache, für dreißig Jahre Unterdrückung. Sie wollen die Eliten ins Gefängnis bringen, von denen sie bestohlen wurden. Und genau das versprechen ihnen die Islamisten. Sie sagen: Die Diebe und Mörder, die euch regiert haben – wir hängen sie auf, wir stechen sie ab. Deshalb wählt uns! Wenn man die Bevölkerung erreichen will, muss man aufs Land. Unsere Intellektuellen haben keinen Kontakt zu den Menschen. Es nutzt nichts, von Demokratie zu reden. Die Einzigen, die Kontakt mit der Bevölkerung haben, sind die Islamisten.

ZEIT: Sie tun, als lohne es sich nicht, für die Demokratie zu kämpfen…
Sansal: Doch, unbedingt! Aber ich sage: Macht nicht dieselben Dummheiten wie wir in Algerien. Es kann in einem religiösen Staat keine Demokratie geben, und die meisten Menschen sind zur Demokratie gar nicht bereit. Das Volk verlangt Sicherheit und Gewaltlosigkeit, keine Debatte über Laizismus und Islam.

ZEIT: Wie soll denn der Arabische Frühling vorankommen?
Sansal: Was wir brauchen, sind unabhängige Institutionen, eine saubere Polizei und Justiz. Vor allem müssen wir unsere Revolution gegen uns selbst führen. Viele sind dazu nicht reif – auch nicht diejenigen, die auf der Seite des Fortschritts stehen. Wenn ich meine Freunde frage: Akzeptiert ihr, dass eure Frauen und Töchter in einer demokratischen Gesellschaft unabhängig sind? Dann sagen sie mir: Grundsätzlich sollen die Frauen natürlich frei sein, nur meine eigene Frau gehört mir. Und Töchter sollen ein freies Leben führen, nur meine Tochter nicht, sie bleibt ja bis zu meinem Tod meine Tochter.

ZEIT: Algerien feiert gerade den 50. Jahrestag seiner Staatsgründung. Erleben Sie in Ihrem Land immer noch Gewalt?
Sansal: Aber ja. Die Gewalt kommt in Wellen. Es waren einmal 1.000 Morde am Tag. Es gibt aber auch andere Formen der Gewalt: Unsere Bürokratie tritt die Menschen mit Füßen, unsere Staatssicherheit horcht alle Bürger bis in den letzten Winkel aus. Früher gab es vielleicht einmal 200.000 Polizisten, heute sind es 1,5 Millionen. Ich reise in zwei Tagen nach Algier, und jetzt schon habe ich Angst. Immer wieder gibt es falsche Vorladungen bei der Polizei, die sich dann als »Fehler« herausstellen. Das sind stalinistische Formen des Terrors, wie in Orwells 1984.

ZEIT: Sie sind der letzte große algerische Schriftsteller, der in Algerien lebt. Warum?
Sansal: Das frage ich mich auch manchmal. Ich denke, die Intellektuellen dürfen nicht weglaufen, wenn sich etwas Entscheidendes in ihrer Region ereignet.

ZEIT: Unsere Existenz, schreiben Sie, braucht nur eine Zehntelsekunde, um zu explodieren – aber dann braucht man ein ganzes Leben, um wieder Ordnung in die Dinge zu bringen.
Sansal: Gewalt zerstört das Gehirn. Man verliert seine Fähigkeit zu analysieren, nachzudenken, zu reflektieren. Die Funktion der Schriftsteller und Intellektuellen besteht genau darin: das Gedächtnis zu heilen und dem Bewusstsein wieder auf die Sprünge zu helfen. Alle müssen helfen: Ärzte, Schriftsteller, Psychologen, Künstler. Die Politiker sagen: Was zerstört ist, ist zerstört, kümmern wir uns um die Zukunft. Wir aber kümmern uns um unser Volk wie um jemanden, der die Sprache verloren hat und der wieder lernen muss zu sprechen. Das fehlt dem Arabischen Frühling: Bücher, Theaterstücke über die Rebellion, selbst wenn sie schlecht sind, Lieder, die etwas von der Vergangenheit fixieren, damit sie nicht untergeht.

ZEIT: Wie sehen Sie die Zukunft der arabischen Länder?
Sansal: Ich fürchte, es gibt Gefahren, an die überhaupt noch niemand denkt. Vor 50 Jahren, als Algerien gegründet wurde, hatte es 9 Millionen Einwohner. Heute sind es 36 Millionen. In 20 Jahren aber werden es 100 Millionen sein. Ein Staat muss aber seine Einwohner ernähren können. Unser Erdöl reicht nur für 10 Jahre. Schon morgen werden wir Hungerkriege haben. Der Islam kann seine Bevölkerung nicht ernähren. Die Islamisten sagen: Man muss möglichst viele Kinder in die Welt setzen. Wenn Gott will, dass wir sterben, dann sterben wir eben – im Grunde genommen ist das egal. Was wir brauchen, ist eine entwickelte Wirtschaft, ein laizistischer Staat. Sonst wird es Kriege und Völkermord geben wie in Schwarzafrika.

ZEIT: Was wird aus Tunesien, Libyen, Ägypten?
Sansal: Die Länder drohen zu zerbrechen. Schauen Sie sich Libyen an! Man dachte, da gibt es Gaddafi und das Volk. Und dann stellt man fest: keineswegs. Im Zentrum Libyens leben Berber, die immer schon Kriege geführt haben, im Osten leben die Nachkommen zwangsislamisierter Juden, deshalb hatte Gaddafi die Region um Bengasi so vernachlässigt. Nordafrika ist genauso gespalten wie das ehemalige Jugoslawien. Im Herzen Europas gab es ein solches Morden – wie soll das dann in unseren armen, schlecht organisierten, ressourcenarmen Ländern zugehen?

ZEIT: Können Sie sich vorstellen, dass Algerien implodiert?
Sansal: Nur 16 Prozent der Algerier sind Araber. Es gibt schon eine Autonomiebewegung der algerischen Berber und eine Exilregierung in Paris, drei Minister sitzen in Deutschland. Sie sind sehr aktiv, haben sogar schon Angela Merkel getroffen. Die Berber wollen auf keinen Fall mit den Arabern in einem Staat verbleiben. Repräsentiert werden sie von einem weltbekannten Sänger, Ferhat Meni. Er hat viele Jahre gekämpft, saß im Gefängnis und wurde gefoltert. An diesen Fronten drohen die Bürgerkriege der Zukunft.

1 Kommentar

  1. Ich kann zwar keine Frage formulieren, mich w rde adigrllnes eine abschlie ende und laienverst ndliche Erkl rung sehr interessieren (habe die Disk. am Rande verfolgt). Auf Anhieb h tte ich ebenfalls zwischen Urheber- und Verwertungsrechten unterschieden, wobei die Verteilung von Einnahmen (aus den Verwertungsrechten) individuell im Autorenvertrag geregelt ist, meist enthalten Vertr ge auch einen Passus ber Zweit-/Nebenverwertungen etc. (wozu ich auch die Google-Ver ffentlichung spontan z hlen w rde), pauschale Aussagen d rften da m.E. kaum m glich sein. Der VG-Wort-Anteil bleibt so weit ich wei von den individuellen Regelungen unber hrt (?). Geht es bei der Diskussion also ganz grunds tzlich um die Verteilung der Google-Aussch ttung oder nur um den Anteil, den die VG-Wort verwaltet, bzw. um die Frage, ob die VG-Wort berhaupt Anspr che gegen ber Google geltend machen kann? Soweit ich wei gibt es derzeit hnliche Konflikte zwischen der GEMA und Youtube, wobei sich Youtube wohl gegen die pauschale Bezahlung des vollen Gema-Beitrags wehrt. Vielleicht w re da ein Vergleich der Situationen spannend F r mich bleiben diese Unterscheidungen und Hintergr nde in der Diskussion auf jeden Fall etwas unklar. Aber wie gesagt, keine Ahnung, daher umso st rkeres Interesse an Aufkl rung

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