KABYLEI (Tamurt) – Die algerische Verfassung erkennt die masirische Sprache an. Das hat eine enorme politische Bedeutung. Doch Gleichberechtigung und Förderung bleiben bis heute aus. Das hat Auswirkungen.
Am 07. Februar 2016 wurde die masirische (berberische) Sprache in der algerischen Verfassung als zweite offizielle Sprache verankert. Das überraschte damals die algerische Bevölkerung. Kurz darauf, am 07. März 2016, begrüßt der damalige Generalsekretär der Vereinten Nationen Ban Ki-moon bei seinem Besuch in Algier den damaligen algerischen Premierminister Sellal auf Masirisch mit den Worten „Azul fell-awen“ (dt. etwa: Guten Tag).
Diese positive Nachricht verbreitete sich schnell im Land, sowohl bei Masiren als auch bei einigen Arabophonen. Arabophone sind diejenigen Menschen, die Arabisch als Muttersprache sprechen. „Wir wollen Tamazight (Masirisch) als Sprache unseren Vorfahren lernen“, sagten sie. „Ich mag diese Sprache. Sie ist doch eine Sprache unseres Landes. Warum konnten wir sie bis jetzt nicht lernen?“, fragten sich einige Schülerinnen und Schüler.
Auf der anderen Seite meldeten sich die Gegner der masirischen Kultur und Sprache zu Wort. Ihr Hass richtete sich vor allem gegen die Kabylen. Die Anerkennung dieser Sprache mit ihrer „lateinischen Schrift“ ist für sie nicht akzeptabel. Sie bezweifeln überhaupt, ob die Kabyle Masiren sein können. Einige von ihnen bezeichnen die Kabylen als Nachkommen der Vandalen. Ihrer Meinung nach handelt es sich bei der Anerkennung der Sprache und Kultur um einen Komplott von Franzosen und Zionisten, um Algerien zu destabilisieren.
Eine Abgeordnete einer „islamistischen Partei“ der algerischen Nationalversammlung (Algerisches Parlament) bekräftigte öffentlich in verschiedenen privaten Fernsehsendern und in Sozialen Medien ihre Ablehnung der masirischen Sprache. Ihr Hass richtet sich insbesondere gegen die Kabylen. Sie sagte sinngemäß: „Wenn meine Tochter ein Wort auf Kabylisch verlieren würde, würde ich sie töten.“
Die masirische Sprache scheint manchen Arabophonen Angst zu machen. Vielleicht, weil sie die einzige Sprache in Algerien ist, die keine kolonialen Wurzeln hat. „Ich bin bereit, die hebräische Sprache in Algerien unterrichten zu lassen, aber niemals die masirische Sprache“, erklärte Kaid Ahmed, ein Verantwortlicher der algerischen Armee. Dieser Hass gegen die Kabylen beziehungsweise gegen die Masiren im Ganzen hat eine lange Geschichte.
In der Kabylei wird seit hundert Jahren überall die kabylische Sprache, eine Variation der masirischen Sprache, in „lateinischer Schrift“ geschrieben. Sie wird im Alltag als Kommunikations-und Muttersprache benutzt. Veröffentlichungen von Literaturwerken, Kunst und Filmenboomen in den letzten 20 Jahren.
Die Verwaltung hingegen benutzt in der Kabylei die masirische Sprache nicht. Die Geburtsurkunde, ein Symbol der kulturellen Identität, wird in der Kabylei in arabischer Sprache erteilt und nicht in Kabylisch. Selbst masirische Namen für Neugeborene lehnen einige Rathäuser in der Kabylei immer wieder ab.
Die heimliche Intensivierung der Arabisierungspolitik
Juristisch betrachtet, bekommt die arabische Sprache in der neuen Verfassung mehr Bedeutung als die masirische Sprache. So wurde die Verfassung zum Beispiel in Arabisch und Französisch veröffentlicht, aber nicht in Masirisch. Laut Artikel 3 der Verfassung ist Arabisch nationale und offizielle Sprache. Arabisch bleibt die offizielle Sprache des Staates.
Artikel 4 besagt, dass die masirische Sprache ebenfalls eine nationale und offizielle Sprache ist. Ihre Bezeichnung als offizielle Sprache des Staates fehlt jedoch. Sie ist somit der arabischen Sprache untergeordnet.
Die Regierung verzögert auch die Förderung der masirischen Sprache, die in der Verfassung erwähnt ist. Man wartet auf die Einrichtung einer Akademie für die masirische Sprache. Doch mit diesem Projekt einer Akademie beabsichtigt die algerische Regierung die Förderung der masirischen Sprache zu verzögern und zu blockieren.
Perspektiven für die Zukunft
Die Verankerung der masirischen Sprache in der algerischen Verfassung hat auf jeden Fall ihre positive Seite. Ein ideologischer Kampf um die kulturelle Identität Algeriens wird jetzt intensiv und öffentlich geführt. Die Entwicklung der politischen Situation in Algerien steht vor drei Möglichkeiten:
1. Die Gleichberichtigung der Kulturen beziehungsweise der Sprachen im Rahmen des algerischen Nationalstaats.
Viele Algerier bevorzugen diese Lösung. Sie ist jedoch kaum realisierbar. Die jetzigen Machthaber Algeriens sind nicht bereit, auf ihre Arabisierungspolitik und die Zugehörigkeit des Landes zur sogenannten„ arabischen Welt“ zu verzichten. Auch viele Panarabisten und Islamisten haben einen großen Einfluss innerhalb der algerischen Regierung. Beide Gruppen stellen sich gegen die masirische Sprache und Kultur. Sie üben auch einen großen Druck, manchmal mit Gewalt, auf die Algerier aus, die diese arabisch-islamische Ideologie in Frage stellen.
2. Reform des algerischen Regimes vom Zentralismus zum Föderalismus.
In diesem Fall soll die masirische Sprache in ihren verschiedenen Varianten auf regionaler Ebene als offizielle und Verwaltungssprache benutzt werden. Der Föderalismus könnte kurzfristig die Forderung nach der Unabhängigkeit der Kabylei bremsen. Voraussetzungen dafür wären regionale Regierungen und Parlamente, die befugt werden, ihre lokalen Angelegenheiten selbst zu verwalten.
3. Eine unabhängige Kabylei.
Wird die Kabylei unabhängig, wird die kabylische Sprache automatisch nationale, offizielle und Arbeitssprache sein. „Warum haben die Araber mehr als 20 Staaten und wir keinen?“, fragen sich die Anhänger der Unabhängigkeit der Kabylei. Schon jetzt hat die im Exil sitzende provisorische kabylische Regierung „MAK-Anavad“ – zumindest symbolisch – ein Stück Autonomie mit friedlichen Mitteln realisiert.
Es gibt eine kabylische Nationalhymne, eine kabylische Regionalflagge, einen Ausweis in kabylischer Sprache und eine kabylische Fußballnationalmannschaft. Diese hat im Sommer 2018 an einer Weltmeisterschaft der „Völker ohne Staaten“in London teilgenommen. „Endlich haben wir unsere eigene Fußballmannschaft und können uns freuen, wenn sie gewinnt.“,jubeln viele Kabylen. Der algerische Staat hatte den Kabylen all‘ dies seit seiner Gründung 1962 verweigert.
Die Anhänger dieser Bewegung haben kein Vertrauen mehr zur algerischen Regierung. Sie ziehen den Schluss: „Nur unsere eigenen politischen Institutionen können eine Garantie dafür sein, das Sterben unserer Muttersprache zu verhindern.“
Auch im Ausland keine Anerkennung
Auch im Ausland finden Sprachen von Migrantinnen und Migranten, die in ihren Heimatsländern keine offiziellen Sprachen sind, keine Anerkennung. In Deutschland leben zum Beispiel tausende Masiren, vor allem aus Marokko. Ihre Muttersprache wird von deutschen Institutionen ignoriert. In manchen Bundesländern weigerten sich die politisch Verantwortlichen, diese Sprache als Muttersprachein den Schulen zu unterrichten. Stattdessen wird masirischen Kindern die arabische Sprache, die für sie fremd ist, angeboten.
Fazit: Ein Volk, das in Würde leben möchte muss aufhören Minderheit zu sein!
Von Akli Kebaili
Zum Weiterlesen:
Akli Kebaili, Arabisches Monopol im Staat fixiert, in Pogrom 193, März/April 1997
Akli Kebaili, Volksaufstand in der Kabylei. Die Entwicklung der masirischen Bewegung,
in Pogrom 219,3/2003
Akli Kebaili, Die Kabylei zwischen Autonomie und Assimilation, in Pogrom 259,2/1010
Farid Attoui, L’officialisation de tamazight ne libérera pas le peuple kabyle:
Autoreninfo:
Dr. Akli Kebaili wurde 1953 in der Kabylei geboren. Er studierte in Algier sowie an der Universität Tübingen und promovierte im Fach Politikwissenschaft. Aktuell leitet er die Antidiskriminierungsstelle im Amt für multikulturelle Angelegenheiten in Frankfurt am Main. Außerdem engagiert er sich u.a. bei der GfbV – als Koordinator – gegen die Unterdrückung für der masirischen Kultur und Sprache.