Wahlboykott in Marokko, öffentliche Verbrennung der Wahlkarten

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Wahlboykott
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In Tanger, Rabat und anderen Städten Marokkos verbrennen junge Arbeitslose und andere verdrossene Bürger ihre Wahlkarten für die Abstimmung über die neue Verfassung am kommenden Freitag. Erst tanzte am 17. Juni zur Verkündung der neuen vorgeschlagenen Verfassung durch den marokkanischen König Mohammed VI halb Marokko auf den Straßen, wobei auch gekaufte Fahnenschwenker unter ihnen gewesen sein sollen und nun ist die Stimmung in Marokko doch wieder gekippt. Und wieder sind sie da, die Tausenden Demonstranten, die schon vorher wussten, oder nun begriffen haben, dass man ihnen nur etwas vorgemacht hatte.
Der in Hamburg lebende marokkanische Sänger Yuba, der sich für Menschenrechte in seiner Heimat einsetzt, ruft zum Wahlboykott auf und erklärt uns, warum.

Uli Rohde: Yuba, du bist ja was die Menschenrechte und besonders die Rechte der Masiren (Berber) in Marokko angeht, eine echte Institution. Bei meinem letzten Marokkoaufenthalt habe ich deine Stimme wirklich in vielen Bars und Cafés gehört und die Leute meinten, dass du einer der ganz großen singenden Stars Marokkos bist. Du bist ein richtiger Hoffnungsträger.
Ich habe in unserem Vorgespräch herausgehört, dass du die Abstimmung für das Referendum am kommenden Wochenende boykottieren willst? Kannst du unseren Lesern erklären, warum?

Yuba: Zu allererst muss man wissen, dass der vorliegende Entwurf des neuen Grundgesetzes im Grunde eine durchgesetzte Verfassung ist. Deswegen bin ich ganz klar für einen Boykott der Abstimmung, aber viele Marokkaner haben gar nicht verstanden, dass man nicht mit „nein“ stimmen muss, sondern dass ein Boykott bedeutet, dass man gar nicht erst zur Abstimmung hingeht. Ein nicht zu verachtender Teil der Marokkaner kann nicht einmal Lesen und sie hören auf das, was sie in den Medien oder in der Moschee hören. Die neuen Gesetze sind immer noch mittelalterlich und ich sehe keine wirkliche inhaltliche Verbesserung zur alten Verfassung. Die Methodik mit welcher diese gemacht wurde ist nicht demokratisch, es wurde nur mit rechts Konservativen und die rechts Islamisten verhandelt, die Demokraten und die Zivilgesellschaft sind ausgeschlossen marginalisiert worden.

Der König wollte eigentlich ein paar seiner Rechte abgeben und hat über die Trennung der Macht gesprochen, aber wenn ich die neue Verfassung richtig interpretiere, dann nimmt er sich mehr Rechte, als er abgibt. Für mich sollte hier der Mensch, also der Bürger im Zentrum stehen und nicht der König! Die Bürger wurden gar nicht gefragt, was sie wollen. (Artikel 41-59) Es wurde einfach etwas durchgesetzt.
Es geht schon mit dem ersten Artikel los: z.B. im Deutschen Grundgesetz steht ganz vorne an: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Im neuen Verfassungsentwurf hingegen steht gleich zu allererst, dass Marokko eine Monarchie ist. Der Bürger steht also ganz klar nicht im Zentrum.
Uli Rohde: Was würdest du denn konkret geändert haben wollen?
Yuba: Die neue Verfassung wird für die Armen in meinem Land nichts ändern, wird ihre Leiden nicht stillen hier geht es eher um Machterhalt derjenigen, die eh schon oben sind.

Meine Frage ist sowieso: warum trennt man nicht Religion und Staat?
Ich meine wir leben im Jahr 2011. Warum muss der König religiöses Oberhaupt sein, und gleichzeitig in der Politik mitmischen? Ist das nicht ein Paradoxon? Eine Trennung bringt in diesem Fall auch Vorteile mit sich… Die Religion soll nicht weiterhin als alt bekanntes und bewährtes Instrument der Kontrolle und der Demagogie eingesetzt werden. Die Religion soll nicht Mittel zum Zweck sein, die Ungerechtigkeiten aufrecht zu erhalten. Sie darf nicht politische Interessen bedienen. Damit wird man auch dem Islam überhaupt nicht gerecht.

Unser Problem hier ist die Arabisierung und diese falsch verstandene Religion. Viele Dinge, die man dem Islam zuschreibt sind in Wirklichkeit arabischen Ursprungs. Aber niemand weiß das mehr. Der Islam ist nicht da, um zu Arabisieren – was natürlich in der Realität anders aussieht. Der Islam ist offizielle Staatsreligion, damit wird auch vergessen und verdrängt, dass bei uns z.B. auch Menschen anderen Glaubens Leben.

Bei uns Masiren (Berbern) auf dem Dorf kannten wir viele dieser „arabischen Probleme“ gar nicht. Die Leute waren frei und unser Prediger in der Moschee war auch abends vielleicht gleichzeitig unser Vortänzer, Freund und eben einer aus dem Dorf und wir haben immer neben den anderen Religionen friedlich gelebt. Bei uns gab es auch in vielen Dörfern eine Synagoge neben der Moschee, aber das war früher nie ein Problem. Jedenfalls nicht bei den Masiren.

Meine eigenen Schwestern und meine Mutter sind im Grunde Opfer der Arabisierung, weil ihnen damit ihre Gleichberechtigung genommen wurde, die nun mühsam mit dem Artikel 19 wieder eingeführt werden soll.
Uli Rohde: Was soll deiner Meinung nach noch verändert werden?

Yuba: Ich bin natürlich auch besonders an dem Artikel 5 interessiert, in dem es um das Tamazight – meine Muttersprache – als offizielle Sprache geht. Dieser Artikel ist so formuliert, dass das Tamazight zwar immerhin einen offiziellen Status bekommen soll, aber immer noch unter dem Arabischen angesiedelt bleibt. Das bedeutet auch irgendwie auch, dass die Masiren in Marokko Menschen zweiter Klasse bleiben, denn ich bin ja auch irgendwie meine Sprache und wenn diese zweitrangig ist, bin ich es doch irgendwie auch. Der Staat denkt sicher, dass wir Berber deshalb schnell zustimmen, weil wir froh sind, dass die Sprache so wenigstens offiziell wird. Aber wenn wir jetzt mit „Ja“ stimmen, können wir vielleicht Jahrzehnte auf weitere Veränderungen warten. Und ein Großteil der Bevölkerung würde sich schon mit einem Teilsieg zufrieden geben. Das wäre aber fatal.

Um noch einmal auf die Trennung von Staat und Religion zurückzukommen:
Am letzten Freitag wurde bei den Freitagsgebeten überall im Land gesagt, dass man zur Wahl gehen und mit „ja“ stimmen solle. Das sind doch unhaltbare Zustände! Die Religion sollte sich niemals in die Politik einmischen und umgekehrt. Das halte ich sogar für sehr gefährlich.
Des Weiteren müssen auch die Rechte der im Ausland lebenden Marokkaner noch mehr als geplant gestärkt werden. Wir sind immerhin glaube ich sechs Millionen Marokkaner im Ausland und bringen über 25 Milliarden Euro jährlich mit. Ohne uns stünde Marokko wesentlich schlechter da… Das hat sich scheinbar noch niemand überlegt.

Ein weiterer Punkt ist der: was ist, wenn man als Marokkaner Kinder im Ausland bekommt? Wenn diese nach Marokko fahren, um z.B. die Familie zu besuchen, oder dazubleiben, bekommen die doch einen Kulturschock, bei diesem Grundgesetz und dem Lebensstandard. In Marokko werden nicht einmal die Menschenrechte respektiert. Mit so einer Zeitreise ins Mittelalter kann man doch kaum fertig werden. Diese Generation wird für Marokko so für immer verloren sein.
In Deutschland wird am kommenden Wochenende auch abgestimmt werden. Ich fordere hiermit alle Marokkaner zum Boykott auf!

Das Interview führte: Uli Rohde

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